GASTKOMMENTAR VON MOJMÍR HAMPL (Die Presse)
Wie die Politiker die Märkte belehren (pdf - 894 kB)
Pikant: Regulierungsmaßnahmen werden von jenen Ländern vorangetrieben, deren Finanzsysteme in der Krise am verwundbarsten waren.
Ist Ihnen aufgefallen, wer in Zeiten der Finanzkrise die Bühne betreten und begonnen hat, dem Finanzmarkt selbstbewusst und mit dramatischen Gesten zu predigen, wie verantwortungslos, kurzsichtig und unachtsam er sich vor der Krise verhalten habe? Die Politiker. Und unverzüglich begannen sie auch damit, intensiv darüber nachzudenken und vorzuschlagen, wie sich diese „scheußlichen Praktiken des Marktes“ künftig zügeln lassen.
Ist das nicht ein Paradox? Gerade die politische Szene eines großen Teils der fortgeschrittenen demokratischen Welt kann wohl kaum als Lehrbeispiel für die Sorge um langfristige Ziele, die über den Horizont einer Legislaturperiode hinausgeht, angesehen werden. Im Gegenteil! Die Fähigkeit auch über den Tellerrand der nächsten Wahlen hinauszuschauen, ist in der normalen, demokratischen Politik unterentwickelt. Und Wahlen stehen nahezu ständig auf der Tagesordnung – innerparteiliche Wahlen, Kommunalwahlen, nationale und supranationale Wahlen. Langfristige Überlegungen sind da eher die Ausnahme. Sie werden vielleicht in Geschichtsbüchern gewürdigt. Um aber dort verewigt zu werden, müssen die Politiker zunächst einmal in kürzeren Perioden jene besagten Wahlen gewinnen. Eine lange Periode kann dann nichts anderes als die Summe unschöner kurzer Perioden sein. Insoweit steht alles im Einklang mit der Theorie der öffentlichen Wahl beziehungsweise der „Ökonomie der Politik“.
Keine ausreichenden Reserven
Daher sind letztendlich kurzfristig zwar schmerzhafte, langfristig aber nützliche Veränderungen oder strukturelle Reformen derart schwierig. Egal, ob es um Renten, Gesundheitswesen, Flexibilität des Arbeitsmarktes geht oder auf EU-Ebene beispielsweise um die berühmt-berüchtigte sogenannte Lissabon-Strategie, das heißt das Bemühen der EU, die USA wirtschaftlich „einzuholen und zu überholen“.
Häufig wird der Finanzsektor auch dafür gescholten, in guten Zeiten keine ausreichenden Reserven gebildet zu haben, um in den schlechten davon zehren zu können. Doch auch hier dienen die Politiker wohl eher als abschreckendes Beispiel denn als tugendhaftes Vorbild. Nur wenige Zeiten waren beispielsweise für die Bewirtschaftung der öffentlichen Haushalte derart gut wie die Jahre vor der jetzigen Krise, in denen wir ansehnliches Wachstum und niedrige Inflation hatten. Trotzdem wiesen die meisten EU-Länder in den Jahren 2000 bis 2007 Haushaltsdefizite aus. Mit großem Tamtam stellte die EU einst ihre Verpflichtung zur Schau, auch in schlechteren Zeiten keinen Anstieg der Defizite der öffentlichen Finanzen in den einzelnen Ländern über drei Prozent des BIPs zu dulden. In guten Zeiten, die hinter uns liegen, hätten die Budgets im Schnitt ausgeglichen sein oder sogar Reserven gebildet werden sollen. Durch die kreativen Überlegungen der EU-Finanzminister wurde dieses Kriterium aber zu einem durchlässigen Schwellenwert – nicht nur für schlechte, sondern auch für gute Zeiten! Und sogar diese gelockerte Grenze wurde in vielen Ländern im Osten und Westen der EU wiederholt verletzt.
Herdenverhalten
Wenn ich heute die Schlussfolgerungen des Rates „Wirtschaft und Finanzen“ lese, der mit ernster Miene fast jeden Monat ein neues Rechnungs-, Regulierungs- oder Aufsichtsinstrument vorschlägt, um den Finanzsektor zu zwingen, künftig an schlechte Zeiten zu denken, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es handelt sich nämlich oft um dieselben Minister, die hinter den Zahlen stehen.
So mancher Politiker zieht die Banker wegen ihres „Herdenverhaltens“, das den gesamten Markt ins Wanken bringt, mit einer Hand am Ohr. Mit der anderen Hand schreibt er aber neue Regulierungsrichtlinien, die den Banken und weiteren Finanzinstituten Entscheidungsspielraum nehmen und den Herdentrieb verstärken. Regulierung ist nämlich nichts anderes als angeordneter Herdentrieb: manchmal gut, manchmal schlecht. In jedem Fall schnürt die gleiche Zwangsjacke auch jene Finanzinstitute ein, die sich nicht der Herde angeschlossen haben und aus der Krise als Gewinner hervorgegangen sind. Pikant ist die Tatsache, dass in der bestehenden EU neue Regulierungsmaßnahmen durchweg von jenen großen westlichen Ländern geschrieben und vorangetrieben werden, deren Finanzsysteme sich in der Krise als am verwundbarsten erwiesen haben. Man stelle sich nur vor, wie es aussähe, wenn neue Finanzregeln in Mittel- und Osteuropa überwiegend von den Letten oder Ungarn geschrieben werden würden!
Um eines klarzustellen: Ich gehöre gewiss nicht zu dem Teil der Bevölkerung, der automatisch mit Respektlosigkeit und Verachtung auf die Politik herabschaut. Auch sind die Politiker für mich keine besondere Spezies, die sich allem anderen auf diesem Planeten entzieht. Pragmatisch sehe ich es so, dass ein bestimmter Typ von Regeln immer und überall zu ähnlichem Verhalten und Ergebnissen führt. Und das gilt auch für die Verwaltung öffentlicher Güter. Eben darum überrascht mich, dass diese billigen Lösungsansätze für die Märkte in vielen Ländern der Welt vielfach schnell und unkritisch aufgenommen werden, wenngleich klar ist, dass die Vertrauenswürdigkeit ihrer Schöpfer auf dem betreffenden Gebiet nicht gerade hoch ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2010)