Das deutsche Dilemma

Mojmir Hampl (Financial Times Deutschland 28. 11. 2011, p. 24)

Die Bundesrepublik muss sich entscheiden: für einen stabilen Euro oder für die fortschreitende europäische Integration. Beides zusammen ist nicht zu haben

Seit die Krise der Euro-Zone ihren Anfang nahm, bemühe ich mich, in Diskussionen in meinem Land auf die Notwendigkeit hinzuweisen, Deutschland genau im Auge zu behalten. Die dortige Entwicklung ist für uns von jeher wichtig, in Zeiten eines bröckelnden Euro-Fundaments aber umso mehr. Über die Zukunft des Projekts der gemeinsamen europäischen Währung wird offensichtlich ausschließlich in Deutschland entschieden.

Die Bundesrepublik ist zweifellos das einzige Land der Euro-Zone, ohne dessen Beteiligung jedes Projekt einer Einheitswährung auf dem Kontinent undenkbar, im Grunde sogar sinnlos wäre. Paris hat hier – obwohl man das keinesfalls eingestehen will – gegenüber Berlin bei Weitem keine vergleichbare Macht, weder allein noch im Bündnis mit Brüssel und mehreren anderen Staaten.

Eben deshalb sind manche Beobachter wegen der lebhaften deutschen Diskussionen über die Euro-Krise nervös. Und es verwirrt, dass diese Debatte oft sehr widersprüchlich verläuft. Einerseits herrscht eine weit geteilte (und verständliche) Frustration in der deutschen Öffentlichkeit über die Anzeichen einer Transferunion beziehungsweise Schuldenübertragung von der Peripherie der Euro-Zone auf ihr Zentrum mit Deutschland an der Spitze. Andererseits gewinnt bei derselben Öffentlichkeit die Unterstützung der Kräfte an Stärke, die für eine schnellere Föderalisierung der Euro-Zone und EU eintreten. Das wäre de facto der Weg zu einer einfacheren Übertragung vieler weiterer Lasten gerade auf Deutschland.

In der fachlichen Diskussion bekunden schließlich ein und dieselben deutschen Experten häufig zunächst ihre Unterstützung für den Euro als Allgemeinkonzept, um gleich anschließend verzweifelt zu lamentieren über einige seiner zwingenden Folgen wie Überschuldung, Ungleichgewicht, Wettbewerbsverlust oder Trittbrettfahrerei. Ist das inkonsistent? Wahrscheinlich ja. Auch unbegreiflich? Keineswegs. Man muss wohl nur einige wesentliche deutsche „konventionelle Wahrheiten“ verstehen. In der Nachkriegszeit sind meines Erachtens zwei davon fast bis in die „deutsche DNA“ vorgedrungen. Zunächst die Unterstützung für das Projekt der europäischen Integration. Und dann die grundlegende Abneigung gegen Inflation und der Wunsch nach einer stabilen und festen Währung, basierend auf einer vertrauenswürdigen Zentralbank. Beides ist stark beeinflusst von der historischen Erfahrung.

Mit der Euro-Krise geraten die beiden ideologischen Richtungen jedoch erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in einen prinzipiellen und schmerzhaften Widerspruch. Daher erscheint es mir billig, Deutschland als bedeutendsten Handelspartner unseres Landes für Zwiespältigkeit oder Unentschlossenheit zu kritisieren. Steht das Land doch vor einem grundlegenden Dilemma. Es muss sich entscheiden: für die Vertiefung des Projekts der europäischen Integration oder für eine perfekte, von allen bewunderte Währung wie die einstige DM. Beides zusammen wird nicht möglich sein.

Wenn die Deutschen eine stärkere Integration wählen, dann bekommen sie keine gesamteuropäische D-Mark, sondern auch etwas französischen Franc, ein wenig Lira oder Pesete. Denn auch mit Ländern, die selbst „nur“ diese Währungen haben könnten, werden sie über alles Wesentliche verhandeln, diskutieren oder abstimmen müssen und bei Bedarf auch einen Großteil der Rechnung zahlen. Darin besteht schließlich das Wesen der Integration der Euro-Zone. Wenn die Deutschen eine perfekte Währung wollen und diese ganz Europa geben möchten, so müsste das ohne Einfluss und Stimme der anderen geschehen. Das wäre aber nicht im Sinne des Integrationsprojekts.

Ich persönlich vermute, dass die Deutschen letztendlich eher die Währung opfern als die Integration, was grundlegende Auswirkungen auf die Wirtschaftsverhältnisse auch in nicht mit dem Euro zahlenden Ländern haben wird.